East Side Stories

ICH MACHE MICH AUF ZU EINEM NEUEN TERRANEN PROJEKT: STIMMUNGSBILDER AUS LÄNDERN EINZUFANGEN, DIE HÄUFIG WAHL- UND GEDANKENLOS ZU EINEM VERMEINTLICH HOMOGENEN MITTEL-, ZENTRAL-, ODER OSTEUROPA KONSTRUIERT WERDEN, WENN NICHT SOGAR IMMER NOCH ZUM „OSTBLOCK“. GANZ SO ALS HÄTTE ES DIE MUTIGEN DEMOKRATISCHEN REVOLUTIONEN, POLITISCHE, ÖKONOMISCHE UND SOZIALE TRANSFORMATIONEN NIE GEGEBEN.

Seit einer prägenden Pragreise 1980 zog es mich immer wieder nach Osten, auch als Leiter von Studienreisen. Nicht immer gelang es insbesondere jungen Menschen eine respektvolle Wahrnehmung unserer östlichen Nachbarländer zu vermitteln. Die meisten Abiturient*innen können leider keine drei tschechischen, polnischen oder ungarischen Städte nennen; zu viele halten es zudem für eine Art kultureller Tradition, zu Sauf- und Sextouren an der Moldau oder zum all inclusive Post-Abi-Delirium an der bulgarischen Goldküste einzufallen. Andere teilten meine Ostsucht und machten sich auf den Weg zum Studium nach Polen, zum FSJ nach Rumänien oder zur Hochzeit in die Ukraine…

Auf nach Wien

Nach staureicher Busfahrt wartet in München ein Zug mit den Zielen Salzburg, Ljubljana, Rijeka bzw. Venedig. Warum gibt es für solche Verbindungen eigentlich nicht mehr den schönen Namen Transeuropa-Express? Auch wenn es reizvoll wäre, durchzufahren, der erste Stopp heißt Rosenheim. Auf dem Bahnsteig ist der Österreicher für polizeiliche Kontrollen zuständig, im Zug der Deutsche.
Die Zugbegleiterin dagegen erzählt gut gelaunt, dass sie auf ihren wechselnden Fahrten zwischen Bodensee und Voralpenregion mehrmals am Tag Staatsgrenzen überquere. Was so einfach klingt, erfordert allerdings mehrere landesspezifische technische und rechtliche Ausbildungen. Selbst die Anforderungen an Feuerlöscher unterscheiden sich in den Ländern, durch die unser Zug rollt.

DIE ANZEIGETAFEL IM WIENER HAUPTBAHNHOF LISTET ZÜGE NACH PRAG, ZAGREB, BRATISLAVA – DER RAILJET NACH KIEW STOPPT AUCH IN BUDAPEST.

In Ungarn

In Budapest besuche ich meinen ehemaligen Schüler und Reiseteilnehmer C. Er schildert seine persönlichen Eindrücke der Stadt: „Geprägt durch Gegensätze – Kommunismus und Kapitalismus sowie Tradition und Moderne -ist Budapest zu einer der trendigsten Metropolen Europas aufgestiegen. Die kulturelle, geschichtliche und architektonische Vielfalt macht Budapest zu einer der schönsten Städten Europas. Der Charme, der durch die Donau in die Stadtteile Buda und Pest geteilten Hauptstadt, hat sich unter europäischen Studierenden rumgesprochen. So ist Budapest in den letzten Jahren förmlich zu einer Hochburg für Erasmusstudierende aufgestiegen. Wöchentlich finden Erasmus-Partys und Kneipentouren statt. Es ist einfach, sich an den schönen Seiten der Stadt zu erfreuen und alles andere auszublenden. Mir ist die Entscheidung hier zu studieren jedoch nicht leicht gefallen, weil sich Ungarn nach dem Zerfall der Sowjetunion von einem Vorreiter der Transformation mittlerweile zu einem Sorgen- und Problemkind innerhalb der Europäischen Union entwickelt hat. Was passiert, wenn (Rechts-) Populismus zu Regierungshandeln wird, lässt sich hier erahnen. Mittlerweile wird Ungarn in der vergleichenden Politikwissenschaft als eine defekte, illiberale Demokratie eingeordnet. Dennoch bin ich hier. Ich möchte die Zivilgesellschaft stärken, denn nur so kann es zu nachhaltigen politischen Veränderungen kommen.“

International Passenger Trains

Für die 220 km von Budapest nach Debrecen im Osten Ungarns benötigt der Zug drei Stunden, von Debrecen ins rumänische Satu Mare noch einmal vier Stunden. Für 96 km.

Längerer Aufenthalt in einem Ort namens Nyirábrány. Uniformierte kontrollieren die zwei kleinen Waggons unseres „International Passenger Trains“. Unvorbereitet und verwöhnt von offenen Grenzen krame ich lange im Gepäck herum, bis endlich der Personalausweis auftaucht. Auf meine verschlafene Frage, warum hier kontrolliert werde, weiß der Zöllner auch nur, dass das halt so sei. Seine junge Kollegin klärt auf: „Romania not Schengen“. Stimmt ja, auch bei den EU-Staaten gibt es Erste und Zweite Klasse.

Das erklärt zumindest zum Teil, warum wir gefühlte Ewigkeiten im letzten ungarischen Dorf vor der Grenze stehen. Und im ersten rumänischen dahinter noch einmal. Zugleich nehmen mir die Rumänen die Zeitstunde wieder, die mir das Ende der auf höchster EU-Ebene diskutierten Sommerzeit vergangene Nacht in Budapest schenkte.

Granica, Grenze, Grenzland.

Ukraine heißt Grenzland, Zwischenland. Zwischen wem oder was? Zwischen Europa und Russland? Europa und Asien? Zwischen Europäischer Union und dem Nicht-EU-Europa? Am ehesten zwischen dem Europa Zweiter und dem Dritter Klasse. Noch bin ich im rumänischen Norden, einer Region, die sich vom Rumänien-Puzzle bisheriger Reisen unterscheidet. Wer alte Rumänienklischees bedienen will, ist hier im Norden richtig. Nicht einmal das Wetter gibt sich Mühe, graue Plattenbauten, zerfallene Fabrikhallen und ins Gestrüpp laufende rostige Eisenbahngleise in freundlicheres Licht zu tauchen. Das Bahnhofshotel mit dem tragikomischen Namen Casablanca kann sich nicht entscheiden, ob es Trinkertreff, Nachtklub oder Pension sein möchte. Wie man über die Grenze kommt? Ratlosigkeit am Stammtisch. Mit Zügen und Bussen jedenfalls nicht und zu Fuß dürfe man auch nicht früher. Dann husten sie wieder Kohlestaub und Nikotin über ihre Jägermeisterflaschen, weit weg von Brüssel und Berlin und den Diskussionen über Sommerzeit und Dieselfahrverbote.

Back in the USSR?

Zu Fuß und per Anhalter führt der Weg ins rumänisch-ungarisch-ukrainische Dreieckland. Neue Landstraßen, von der EU finanziert, passen nicht so richtig zu den kleinen Häusern hinter gepflegten Vorgärten mit buntem Weinlaub, ein paar Hühnern und Honiggläsern, die auf Käufer warten. Unabhängig vom Staatsgebiet wird hier überwiegend Ungarisch gesprochen, wobei viele sich auch problemlos auf Rumänisch, Ukrainisch oder Russisch verständigen können. Auf zwanzig Autos kommen mindestens fünf verschiedene Landeskennzeichen, zu meiner Überraschung trotz Krieg im Osten häufig auch russische.

NIE WARTE ICH LÄNGER ALS EINE VIERTELSTUNDE AUF DIE NÄCHSTE MITFAHRGELEGENHEIT, OFT NEHMEN DIE FAHRER EINEN UMWEG IN KAUF, UM EINEN STRATEGISCH GÜNSTIGEN PLATZ FÜR MICH ZUM WEITERTRAMPEN FINDEN.

Abends ist Lviv/Lwow/Lemberg erreicht, eine der Partnerstädte Freiburgs, der man einen blühenderen Austausch wünschen würde. Spätestens seit der polnisch-ukrainischen Fußballeuropameisterschaft boomt der Galizien-Tourismus, zeigt sich Lemberg von seiner charmanten Seite. Bei sündhaft teurem Cappuccino und Sachertorte im Café vor der katholischen Kathedrale vergisst man für einen Moment die Sorgen dieses Landes. Meine Lemberger Kollegin nennt neben dem Krieg im Osten die steigenden Gaspreise und hohe Mieten bei weiterhin niedrigen Löhnen und Renten. Vor dem Bahnhof versuchen erschreckend viele ältere Frauen aussortierte Kleidung, Küchengeräte, ja sogar rostige Schrauben zu Geld zu machen. Abends unterrichte ich mit zunehmender Freude in einer Sprachschule. Hier investieren junge Lemberger*innen viel Zeit, Arbeit und Geld, um sich weiterzubilden. Auch nach zwei intensiven Stunden möchte niemand eine Pause oder schielt aufs Smartphone.

Warmer Herbst in Polen

Weiterfahrt von Galizien nach Schlesien. Mit der Westverschiebung Polens wurden Deutsche aus Breslau vertrieben und Lemberger*innen wiederum aus ihrer Heimat ins zerstörte Breslau umgesiedelt. In den letzten Jahren flohen viele Ostukrainer*innen nach Lviv, Kriegsflüchtlinge, die bei uns wenig Aufmerksamkeit finden.
Eher schon die Arbeitsmigration. In Opole bin ich überrascht, wie viele Agenturen Arbeitsplätze in Belgien und den Niederlanden anbieten. Auf den Plakaten lacht der klischeehafte polnische Klempner, den man – Fachkräftemangel hin oder her – in Deutschland und Österreich so sehr fürchtete, dass man erst sieben Jahre nach der großen EU-Erweiterung auch den östlichen EU-Europäern volle Arbeitsplatzfreiheit einräumte.
Wie viele andere Einheimische und Tourist*innen genieße ich den warmen Herbsttag morgens im bezaubernden Oppeln, nachmittags in Breslau und wünsche vor allem jungen Deutschen und Polen einen viel intensiveren freundschaftlichen Austausch.

Gedenktage in Prag

Mangels genauerer Kenntnis, was ihnen auf den übrigen Reiseetappen entgehen würde, war der Kollegen*innen-Neid am größten, als es um Prag ging. In der tschechischen Hauptstadt könnten Belesene noch immer literarische Streifzüge auf den Spuren von Kafka, Lasker-Schüler und Havel unternehmen, Musikliebhaber*innen an der Moldau Mahler, Smetana und Dvorak lauschen und an Architektur Interessierte Gotik, Jugendstil und Kubismus bewundern. Vor allem aber kommen die Historiker*innen auf ihre Kosten, besonders in einem „Achterjahr“ mit zahlreichen runden Gedenktagen. Hier das Burgzimmer, in dem mit dem Fenstersturz 1618 der Dreißigjährige Krieg ausgelöst wurde. Etwas weiter in Richtung des Senats ein Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, der hier 1938 begann, nachdem das Münchner Abkommen den Faschisten den Einmarsch in die demokratische Tschechoslowakei erlaubte. Zahlreiche Kränze mit blau-weiß-roten Schleifen ehren in diesen Tagen den Gründer der Tschechoslowakischen Republik. Auch der 28. Oktober 1918 jährte sich nun zum 100sten Mal, Anlass für Feierlichkeiten, Paraden und Staatsbesuche. Für mich ist Prag die letzte Station meiner terranen Rundreise, in den Osten Europas.

Meine terrane Rundreise

In neun Tagen bereiste ich sieben Länder und noch mehr sehr unterschiedliche Regionen, übrigens fast ohne Regen und noch Anfang November bei 20 Grad, so dass die für den vermeintlich kalten Osten vorsorglich eingepackte warme Kleidung ganz unten im Rucksack blieb. Für mich gab es durchweg freundliche Begegnungen und Erfahrungen, die nachdenklich machen. Umso mehr, da dies kein ferner Kontinent ist, sondern Teil unseres gemeinsamen europäischen Hauses, eines Hauses, das auch im 30sten Jahr nach den freiheitlichen Revolutionen jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs aus Wohnungen erster, zweiter und dritter Klasse besteht. Noch immer ist „der Osten“ für viele vor allem negativ besetzt. Der Osten – das ist das Schlechte, Bedrohliche, von Bram Stokers Dracula (ursprünglich in der Steiermark angesiedelt) über Autodiebe bis Victor Orbán. Müßig, dieser selektiven Wahrnehmung argumentativ zu begegnen und z.B. auf positive geschichtliche, politische, kulturelle oder ökonomische Entwicklungen zu verweisen. Einfach selbst mal hinreisen, ja, und zuhören. Terran machts möglich.

Der Politikwissenschaftler und Historiker Dr. Michael Walter berichtet seit Jahrzehnten in Reportagen und Vorträgen über seine Reisen. Für seine ungewöhnlichen Studienreisen für Jugendliche und junge Erwachsene verlieh ihm die Universität Freiburg den renommierten Lehrpreis für außerordentliches Engagement in der Lehre. Siehe hier für weitere Informationen.